“Dabei bedeutet gewaltfrei zu kommunizieren nicht nur auf körperliche Gewalt und offensichtliche Formen von verbaler Gewalt zu verzichten, wie z.B. jemandem zu drohen oder ihn zu beschimpfen. Auch Anschuldigungen, Urteile, Interpretationen, Bewertungen, Analysen, Manipulationen, Ratschläge, Lob usw. sind subtile Formen von Gewalt und blockieren unbemerkt wirkliche Begegnung.”
Vergangenes kann ich nicht rückgängig machen. Ich kann nur um Ent-schuldigung bitten, und mich schrittweise mit mir selbst versöhnen. Ich kann keine Entschuldigung einfordern, weder von mir selbst noch von anderen. Ich kann durch mein Handeln demonstrieren, dass ich lernbereit bin. Gleichzeitig gestehe ich mir zu, dass gelebte Gewaltfreiheit tiefgreifender Veränderungen bedarf, um unbewusste Muster sichtbar zu machen und schrittweise aufzulösen. Dass es mir nicht immerzu gelingen wird, und eine vollständige Gewaltfreiheit für jemanden der mit Gewalt aufgewachsen ist vielleicht auch nicht zu erreichen sein wird.
Ich möchte dabei rücksichtsvoll mit Fehltritten umgehen, bei mir selbst und bei anderen. Mich nicht ständig überwachen und zusammenreißen müssen, nur um ja nicht “emotional zu reagieren”. Ein wesentlicher Baustein, weit mehr noch als die intellektuelle Auseinandersetzung, wird also die Beschäftigung mit den eigenen Gefühlen und Emotionen bleiben. Mein momentanes Verständnis ist, dass das die größte Hürde ist, um sich dann wieder loslassen zu können.
Um zu lernen, bin ich neben Selbstreflexion darauf angewiesen, dass man mich darauf hinweist wenn ich ausrutsche. Die eigene Psyche ist trickreich, und besitzt die Fähigkeit eigenes Fehlverhalten auszublenden und vor einem selbst zu verstecken. Dabei möchte und kann ich allerdings einfordern, dass entsprechende Hinweise mir gegenüber ebenso gewaltfrei geäußert werden.
Je mehr ich lerne über Projektion und der Verknüpfung erlernter Reaktionsmuster und Überlebensstrategien der Vergangenheit, und deren Auswirkungen auf mein gegenwärtiges Empfinden und somit auch mein Handeln, desto vorsichtiger werde ich. Die Richtschnur die mir dabei bleibt, ist der Versuch, bei meinen eigenen Gefühlen zu bleiben, für diese die Verantwortung zu übernehmen, offen und direkt meine Wahrheit zu vertreten, und mich an Fakten zu orientieren auf die ich mich mit meinem Gegenüber geeinigt habe, damit möglichst wenig unglückliche Vermischung stattfindet.
Meine Grenzen zu verteidigen ist dabei ebenso ein Lernprozess. Was heißt es, nicht nur für mich selbst auf Gewalt zu verzichten, sondern in einem Umfeld und einer Gesellschaft zu leben, in der das nicht Konsens ist? In einer Welt der es schwer fällt, zwischen Wut, Aggression und Gewalt zu unterscheiden, und immer mehr Menschen Gefühle wegdrücken und ausblenden möchten oder dies sollen? Wo Gefühle zu zeigen immer öfter auf Ablehnung stößt, weil es einen zwangsweise an die eigenen Schatten erinnert?
Wenn ich meinen Bewegungsspielraum so weit einschränke, dass mir möglichst keine Gewalt begegnet, und mich zurückzuziehe wo auch immer ich Gewalt erlebe, verringere ich meinen Bewegungsradius, und das kann in einer von Gewalt durchtränkten Gesellschaft kaum funktionieren. Außerdem möchte ich mich weiterhin gesellschaftlich engagieren. Einsetzen für meine Werte, und für Veränderung. Wie verteidige ich mich adäquat gegen Gewalt, statt Täter einfach gewähren zu lassen und weiter dabei zusehen zu müssen, wie sie mehr und mehr Macht erlangen, während der Rest sich zurückzieht?
Wann greife ich ein, wenn ich Gewalt an anderen miterlebe? Wie mache ich jemandem der bewusst oder (wahrscheinlicher) unbewusst mit Gewalt vorgeht klar, dass mich das verletzt, und etwas für mich Gewalt darstellt? Wenn derjenige nun mal keine Rücksicht nehmen möchte, und ich gleichzeitig aber den Kontakt nicht völlig abbrechen möchte oder nicht kann? Wenn die Reflexion darüber von demjenigen zu viel verlangen würde, weil derjenige selbst in ein ganzes Netzwerk an Gewalt eingebunden ist? Wenn ich auch ihnen mit dem notwendigen Verständnis begegnen möchte? Jemanden direkt zu sagen, dass ich etwas als Gewalt empfinde, scheint dabei selten zielführend, um es nicht nur abzustellen, sondern auch Verständnis und eventuell ein Umdenken zu bewirken, eine Verhaltensveränderung zumindest im Umgang mit mir.
Wer möchte schon gerne direkt oder indirekt als Gewalttäter bezeichnet werden? Eine direkte Konfrontation führt eher zur Verhärtung oder gar einer für mich wiederum als gewalttätig empfundenen kategorischen Verweigerung einer Fortsetzung des Gesprächs, und somit zu Verletzungen auf beiden Seiten (siehe z.B. Punkt 5 der Formen psychischer Gewalt), nicht dazu dass “Täter” Einsicht zeigen und verstehen, dass sie es mit jemandem zu tun haben der Verständnis hat für ihre Prägung, ihre innere Verzweiflung, die dabei entwickelten Überlebensstrategien. Ich zeige ja in dem Moment auch keine Einsicht, dass meine aus meiner Sicht gewaltfrei geäußerte Kritik bereits die Grenzen des Gegenübers verletzen könnte, und verlange, dass derjenige das “aushält” statt sich dem Thema zu “verweigern”. Die verbale Gewalt auszuhalten und möglichst zu “ignorieren” empfinde ich da momentan oft noch als weit weniger schmerzhaft als der für mich überraschende völlige Kontaktabbruch durch die Gegenseite, nur weil ich darauf hinweise, dass mich etwas verletzt hat. Ich möchte lernen, klar und deutlich meine Grenzen zu verteidigen und gleichzeitig dabei höflicher zu werden.
Was ist denn überhaupt Gewalt, und was nicht? Wenn ich die Verantwortung habe für meine eigenen Gefühle, und ich etwas erlebe was mich verletzt, kann es dann überhaupt so etwas wie eine allgemeingültige Definition geben? Mein momentanes Verständnis, um das Vorhaben herum selbst möglichst “gewaltfrei” zu werden, beinhaltet es deshalb zunächst, jedem seine eigene Definition, seine eigenen Gefühle, zuzugestehen. Erschwerend kommt hinzu, dass wir uns angewöhnt haben, dem anderen eine Verantwortung für die eigenen Gefühle zuzuschreiben, und direkte Kommunikation oft gar nicht erwünscht ist. Wer will schon die Wahrheit hören. Gleichzeitig bedeutet es für mich, selbst schrittweise mit dem Rahmen und meiner Definition von Gewalt zu experimentieren, diese zu entwickeln, bis ich einen Standpunkt dazu habe, den ich dann wiederum für mich vertreten kann. Interessant dabei ist dann auch die Frage, für welchen Standard ich mich schlussendlich gesellschaftlich einsetzen möchte. Mir scheint es mit dem Framework der “Gewaltfreien Kommunikation” von Marshall Rosenberg und den “Kommunikationssperren” von Thomas Gordon reichlich Material zur Ergründung zu geben. Aber damit stehe ich erst am Anfang.
In der sensibilisierten Auseinandersetzung damit fällt es mir zur Zeit noch schwerer als schon zuvor, die allgegenwärtige Gewalt in der Gesellschaft zu “ertragen”. In der Lügen, Unterstellungen und Beleidigungen und, für mich besonders schmerzhaft, als nette Ratschläge getarnte Befehle nicht nur zur Tagesordnung gehören, sondern solches Verhalten auch noch willkommen geheißen und verteidigt wird, während verdrehterweise das Aussprechen von unbequemen Wahrheiten als Gewalt und Übergriffigkeit empfunden wird. Das gehört wohl mit zur Reise, damit einen besseren Umgang, und womöglich sogar irgendwie meinen eigenen Frieden, zu finden.
All das mag zunächst simpel klingen, und es mag Menschen geben denen das gelingt. Ich kenne wenige solcher Menschen; was sicherlich auch daran liegt dass ich eben selbst nicht gewaltfrei aufgewachsen bin. Wer ist das schon. Dennoch möchte ich es lernen, damit ich meinen Teil dazu beitrage, Gewaltmuster nicht an mein Umfeld und spätere Generationen weiterzugeben.